Gletscherlauf – Jökulhlaup

Der heute allgemein gültige Begriff Gletscherlauf stammt nicht zufällig aus dem Isländischen. Es ist die wörtliche Übersetzung des Wortes jökulhlaup. Dabei steht jökul im Isländischen für Gletscher, hlaup für Lauf. Die wissenschaftliche Bezeichnung ist glacial lake outburst flood (GLOF).

Definition

Gletscherläufe sind plötzliche Wasserausbrüche aus einem Gletscher. Sie entstehen beispielsweise, wenn unter Gletschern durch vulkanische Aktivität große Mengen an Schmelzwasser entstehen. Diese Situation ist in Island sehr häufig, schließlich ist es eines der vulkanisch aktivsten Gebiete der Erde und die Insel ist von zahlreichen Gletschern bedeckt.

Das Schmelzwasser kann entweder kontinuierlich über einem unter dem Gletscher liegenden Hochtemperaturgebiet entstehen, ebenso passiert dies aber durch den subglazialen Ausbruch eines Vulkans. Besonders im Süden von Island ist diese Konstellation recht häufig, einmal am Vatnajökull mit mehreren unter dem Gletscher liegenden aktiven Vulkanen (u.a. Grímsvötn, Bárðarbunga), andererseits am Mýrdalsjökull mit dem darunter liegenden Vulkan Katla.

Ablauf

In beiden Konstellationen (kontinuierliches Abschmelzen, subglazialer Vulkan) schmilzt der Gletscher von unten. Dies führt zur Bildung von subglazialen Seen. Deren Volumen und damit auch deren Gewicht steigt immer weiter an und schließlich durchbricht der See die Eisbarriere.

Das Wasser fließt nun durch Spalten oder unter dem Eispanzer des Gletschers in Richtung Gletscherrand. Hat es diesen erreicht, stürzen die Fluten über das vorgelagerte Gelände, dabei werden auch große aus dem Gletscher stammende Eisblöcke mitgerissen. Die Folgen können verheerend sein.

Bei nicht von Eis bedeckten Vulkanen gibt es ein ähnliches Naturphänomen in Form von Laharen. Dabei handelt es sich nicht um Wasser und Eis, sondern um Schlamm und Schutt.

Beispiele

Katla 1918

Die letzte Eruption der Katla im Jahr 1918 hatte einen großen Gletscherlauf zur Folge. Riesige Wassermassen sammelten sich unter dem Gletscher, dieser trieb auf und das Wasser ergoss sich über den Mýrdalssandur, riesige Eisblöcke von bis zu 200 Metern Länge mit sich reißend. Die Wassermassen erreichten 200.000 m³/s und übertrafen damit sogar den Amazonas. Island hatte zu diesem Zeitpunkt somit den wasserreichsten Strom der Erde.

Grímsvötn 1996

Im Herbst 1996 ereignete sich ein subglazialer Ausbruch unter dem Vatnajökull, ungefähr in der Mitte zwischen den Zentralvulkanen Grímsvötn und Bárðarbunga. Der dabei entstandene Spaltenvulkan trägt heute den Namen Gjálp.

Chronik des Gletscherlaufs

29. September 1996
Ein kräftiges Erdbeben mit der Stärke 5 unter dem Gletscher kündigt einen eventuell bevorstehenden Vulkanausbruch an.

30. September 1996
Es gibt erste Warnungen vor einem Ausbruch des Bárðarbunga. Zahlreiche Erdbeben erschüttern das Gebiet.

1. Oktober 1996
Ein vier Kilometer langer Riss zwischen dem subglazialen See Grímsvötn und dem Bárðarbunga kündet vom erfolgten Ausbruch. Die Eisdecke über dem Grímsvötn hebt sich schnell, da sich immer mehr Wasser im unterirdischen See sammelt. Bis zu 500 Meter dicke Eisschichten schmelzen.

3. Oktober 1996
Ein weiterer Ausbruch schleudert vulkanisches Gestein in die Höhe, die Dampfsäule reicht in bis zu 10 Kilometer Höhe. Auf dem Gletscher öffnet sich eine Rinne.

10. Oktober 1996
Die Rinne ist bereits über 4 Kilometer lang. Immer mehr Schmelzwasser fließt entlang der Rinne Richtung Grímsvötn.

14. Oktober 1996
Die Ausbrüche hören auf. Es waren die größten Ausbrüche unter dem Gletscher seit 100 Jahren. Pro Sekunde schmolzen 5.000 m³ Eis, die Eisdecke hob sich durch den steigenden Wasserspiegel des Sees um 20 Meter pro Tag. Man erwartet einen Gletscherlauf, der aber zunächst ausbleibt.

5. November 1996
08:00 – Eine Spalte von einem Kilometer öffnet sich und Wasser fließt, Eisbrocken mit sich reißend, über den Gletscher.

08:30 – Eine 600 Meter breite und 4 Meter hohe Flutwelle rast über den Gletscher und den Sander auf die Ringstraße mit der Skeiðará-Brücke zu.

09:00 – Straße und Brücke sind überschwemmt. Im Gletscher reißen immer mehr Öffnungen auf.

10:00 – Eisberge und Eisschollen mit einem Gewicht von bis zu 5.000 Tonnen werden über den Sander mitgerissen, das Flussbett des Gletscherflusses Gíkjukvísl verbreitert sich vom 400 auf 2.000 Meter. Aus dem Gletscher sind 15 Millionen Kubikmeter Eis gebrochen! Eisberge von mehreren hundert Tonnen treffen die Brücken der Ringstraße und zerstören sie.

23:00 – Der Höhepunkt des Gletscherlaufs ist erreicht. 50.000 m³ Wasser pro Sekunde strömen herab, über mehrere Stunden ist dies nach dem Amazonas der wasserreichste Strom der Erde. Das Wasser hat für die 50 Kilometer Entfernung zwischen dem Grímsvötn und dem Rand des Gletschers etwa 11 Stunden benötigt.

6. November 1996
Der Gletscherlauf ist vorbei. Das Eisschild über dem Grímsvötn ist um 150 Meter eingesunken. Die Ringstraße wurde auf 6,4 Kilometern Länge komplett zerstört, weitere 6 Kilometer waren zum Teil schwer beschädigt. Die 376 Meter lange Gíkjukvísl-Brücke ist komplett verschwunden, die 904 Meter lange Skeiðará-Brücke ist auf 176 Metern Länge  komplett zerstört, der Rest schwer beschädigt.

Die Flut hatte über 185 Millionen Tonnen Schlick mitgerissen. Auf dem Sander lagen bis zu 10 Meter hohe Eisberge.

Der Gesamtschaden lag bei 10-15 Millionen Dollar.

Aber auch das ist Island: nach 22 Tagen (!!!) wurde die Ringstraße mit provisorischen Brücken wieder geöffnet. Die neue 880 Meter lange Skeiðará-Brücke wurde im Juli 1997, also nach 8 Monaten, freigegeben. In dieser Zeit würden in Deutschland vermutlich noch nicht einmal die notwendigen Genehmigungen erteilt werden.